Mut zur Wildnis

Alle Halme auf 4 cm, keine abstehenden Grasbüschel und eine einheitliche Rasenkante – hier beginnt des Spießbürgers Herz vor Freude zu springen. Wer das Internet befragt, wie er seinen Garten in einen Golfplatz verwandelt, wird der Flut an Ratgebern kaum Herr. Reihenweise Tipps und Tricks klären auf, wie man dem Unkraut den Garaus macht.

Aber braucht es das? Ein Garten kann schließlich so viel mehr sein, also nur ordentlich.

Zu finden an Wiesen- und Wegrändern und als vermeintliches Unkraut vor der Haustür: In einer Höhe von nur 5 bis 25 cm steht die an einen Tannenzapfen erinnernde und mit blauvioletten Blättern gespickte Blüte der Kleinen Braunelle. Bienen, Hummeln und verschiedenen Schmetterlingsarten als Nahrungsquelle dienend, wird sie während ihrer Blütezeit von Juni bis September zum Magnet für Biodiversität.

Und damit fängt die Braunelle gerade erst an: Die in nahezu allen Teilen der Welt heimische Pflanze ist allen voran in der chinesischen Küche ein beliebtes Gewürz, das einen intensiven Geschmack verspricht. Vor der Blütezeit geerntete Pflanzenteile eignen sich auch als Zutat in sommerlich-frischen Salaten oder Kräutersuppen. Dabei bieten sie neben reichlich Vitamin B, C und K auch Gerbstoffe, ätherische Öle und Rosmarinsäure.

Wer auf der Suche nach einem beruhigenden und blutdrucksenkenden Tee ist, der gieße ein bis zwei Teelöffel des getrockneten Krauts mit einer Tasse heißen Wassers auf.

Als letzte der Prunella-Familie wird die Prunella vulgaris – so ihr lateinischer Name – auch heute noch zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Dabei kann sie ein außergewöhnliches Portfolio an Heilkräften vorweisen: Nicht nur wird sie bei Mundraum-, Rachen- und Halsbeschwerden aller Art eingesetzt, auch kam sie im Mittelalter aufgrund ihrer antibiotischen Wirkung unter anderem bei Diphterie, Fieber sowie Lymphdrüsenschwellungen zur Anwendung und sollte sogar gegen Aphasie helfen.

Ganz nebenbei spielt die Kleine Braunelle, die auch als Brunelle oder St. Antonikraut bekannt ist, dabei ihren guten Einfluss auf die Leber aus.

Besonders beeindruckend: In den vergangenen Jahrzehnten konnte nachgewiesen werden, dass die Braunelle sowohl gegenüber HI-Viren als auch gegenüber bestimmten Herpesviren einen heilenden Effekt hat.

Völlig zu Recht ist das kleine Heilkraut daher preisgekrönt – die Loki Schmidt Stiftung ernannte die Braunelle zur Blume des Jahres 2023. Allerdings erhielt sie die Auszeichnung nicht aufgrund ihrer vielfältigen Eigenschaften.

Die Juroren machen auf den zunehmenden Rückgang der Natur und schwindende Diversität aufmerksam. Intensive Landwirtschaft, Überdüngung, stickstoffreiche Böden, Herbizide – all das gefährdet Pflanzen wie die kleine Braunelle und macht ihnen das Leben zunehmend schwerer. Häufiges Mähen und der Kampf gegen `Unkraut´ in Parks und Vorgärten tun ihr übriges.

Damit verliert unsere Umgebung jedoch nicht nur eines ihrer interessantesten Gesichter, sondern viele Insekten eine wichtige Lebensgrundlage. Höchste Zeit also, die Sichtweise auf den eigenen Garten zu überdenken und ein bisschen mehr Wildnis zuzulassen.

Das Gras auf der anderen Seite des Zauns darf dabei ruhig grüner sein – Ihres wird dafür umso bunter!

Lehen Sie sich also zurück und genießen Sie Ihr natürliches Paradies in all seinen Farben, Düften und Geschmacksaromen. Jenes Gedeihen ist pure Lebenskraft. Ein kleines Glück, das Sie selbst erschaffen können – durch Zuschauen und Geschehen lassen.

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Hier finden Sie mehr Kräuter, die in Ihrem Garten eine gute Figur machen würden.

Sie wollen die Wildnis selbst erleben? Eine Wanderung für die besonders Mutigen.